DIE KINDER VON IZieu

Das Haus der vergessenen Kinder

Lelinaz, Frankreich, April 1944

Noch lag ein zarter Schleier über der von Morgendunst verhüllten Landschaft der Bugey. Während in den Flussauen der jungen Rhone der Nebel dicht und zäh alles unter sich verbarg, begann sich ein Stück weiter oben, in den Kalkfelsen des über zweitausend Meter hohen Gebirgszug der Chartreuse, der Vorhang bereits zu lüften. Dort, wo sich bereits die Sonne über die Hügel erhob, vermochten ihre wärmenden Strahlen die Feuchtigkeit der Nacht aufzulösen. Schon bald war alles in friedliches Morgenlicht gehüllt. Der Ruf der Hähne mischte sich mit vereinzeltem Hundegebell und dem Brüllen der Kühe, die gemolken werden wollten. Vogelgezwitscher erfüllte die Frühlingsluft, in den Dörfern Bregnier-Cordon und Izieu sowie den Höfen und Weilern rundherum begannen die Menschen, ihren täglichen Pflichten nachzugehen. Aus dem Kinderheim des Weilers Lelinaz hörte man den hellen Klang von Kinderstimmen.

„Mina, Claudine! Beeilt euch! Was seid ihr nur für Schlafmützen. Gleich gibt`s Frühstück.“Lea Feldblum sah, wie sich unter den Bettdecken des Stockbettes im hinteren Teil des Schlafsaals etwas zu regen begann. Wenig später schaute der verstrubbelte Kopf der achtjährigen Mina Halaunbrunner aus dem oberen der beiden Betten………

So beginnt der Roman von Clara Freys Roman Das Haus der vergessenen Kinder.

Was in ihrem Roman so friedlich, menschlich, natürlich und erwärmend beginnt, endet in der Realität nur wenige Stunden später in einer unmenschlichen, gewalttätigen und abscheulichen Aktion einer Gestapo-Aktion. In deren Protokoll liest sich das dann so:

Kann man es noch unmenschlicher ausdrücken? Eine Woche später starben alle Kinder in der Gaskammer in Auschwitz. Die einzige Überlebende war Lea Feldblum, eine Betreuerin.

Und wie kamen wir – meine Frau Brigitte und ich – dazu, diese traurige Geschichte miteiner Radreise zu verbinden?

Während ich im Herbst 2020 mit Martin Krick auf der „Nie wieder Tour“ vom Allgäu in Richtung Auschwitz unterwegs waren, bekam Brigitte während einer Tour de France Sendung die Geschichte von den Kindern von Izieu mit und ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Nachdem beide Geschichten vom Inhalt her zusammenpassen machte auch eine Radreise nach Izieu Sinn. Nachdem ich im Sommer die Radtour Richtung Russland canceln musste, war es auch für mich ein kleiner Trost, diese Raddtour mit meiner Frau zu starten.

Bei der Planung wurde mir klar, dass die kürzeste, aber auch beschwerlichste Route über die Schweizer Alpenpässe führen wird. Aber auch der Gedanke, innerhalb zwei Tagen mit dem Rad an den Quellen zweier großer europäischer Flüsse vorbei zu fahren, war verlockend. Brigitte war einverstanden, und so starteten wir in einer der sonnigsten Herbstwoche im September ………..

Die Strecke nach Izieu

Weiter auf dem Bodensee-Radweg nach St. Margrethen in die Schweiz. Da wir die Strecke nach Chur auf dem Rheindamm schon in- und auswendig kennen, nehmen wir das Zügli nach Chur und die imposante Fahrt durch die Rheinschlucht bis Ilanz. Von dort geht es auf einem teils sehr anspruchsvollen Mountainbike-Weg bis zu unserem ersten Tagesziel in Disentis.

Übernachtung bei den Padres der Benediktiner in Disentis
Guten Mutes und mit viel Wasser geht es auf die erste Bergetappe
Herrliches Wetter, tolle Landschaft – nur der Verkehr trübt die gute Laune

Da die zwei Alpenpässe Oberalppass und Furkapass an einem Tag mit vollem Gepäck nicht zu bezwingen sind, sind wir am zweiten Tourtag über den Oberalppass gefahren und soweit wie möglich Richtung Furkapass weitergeradelt. In Hospental haben wir gerade noch ein ansprechendes Hotel gefunden. Es war nicht einfach, da über das Wochenende viele Radler zum Alpenbrevet in diese passreiche Gegend der Schweiz kommen. So haben wir am anderen Morgen noch ca. 10 km zum Einrollen bevor der lange Anstieg zum Furkapass ansteht.

Innerhalb zwei Tagen kommen wir mit dem Rad an den Ursprüngen der zwei großen europäischen Flüsse vorbei. Die Rheinquelle am Oberalppass passierten wir gestern, heute die Rhonequelle zwischen Gletsch und Obwalden. Wir sind froh, dass wir im Herbst den Furkapass bei schönstem Wetter überqueren können. Oft ist zu dieser Jahreszeit schon Wintersperre angesagt. Das Bild unten links zeigt den Rhonegletscher bzw. was von ihm übrig geblieben ist. Mit der langen Abfahrt vom Furkapass gelangen wir ins Wallis und damit in die französische Schweiz. Hier werden wir die Rhone bis zu unserem Ziel in Izieu begleiten.

Vorbei an tollen Walserdörfern, immer wieder die Rhone querend, geht es über Brig, Sion und Martigny durch das fruchtbare Obstgebiet des Rhonetals in Richtung Genfer See.

Aus der Stille des Rhone-Radweges spült es uns förmlich an das pulsierende Schweizer Ufer des Genfer Sees. Aber schon wenige Kilometer später, nach der französischen Grenze, hat uns die große Stille wieder eingeholt. Erst in Evian, unserem ersten Quartier in Frankreich, erfahren wir, dass auch die Franzosen ihr Leben am Ufer des Genfer Sees genießen können. Der französische Teil des Rhone-Radweges ist gut beschildert und so geht es fahrplanmäßig gut vorwärts durch belebte kleine Städtchen und stillen Radwegen. Ein Highlight auf dem Weg Richtung Genf ist die mittelalterliche Stadt Yvoire. Hier machen wir einen letzten Halt, bevor wir das turbulente Genf mit dem Wahrzeichen der Wasserfontäne erreichen.

In Genf haben wir erstmals Probleme, den richtigen Weg zu finden. Mein Garmin versagt den Dienst und die Radwegweiser sind nicht mehr überall zu finden. So irren wir einige Zeit durch Genf, bevor wir den richtigen Ausgang finden. Danach hat uns die französische Landschaft mit ihren Obst- und Weinbergen wieder. In den Dörfern ist es schwierig, ein Hotel zu finden. So sind wir froh, dass uns eine Bäuerin einen Tipp gibt, um auf einem Weingut übernachten zu können. Hier haben wir ein schönes Zimmer, leider aber nichts zum Abendessen. Auch meine verzweifelte Suche in den benachbarten Dörfern führt zu keinem Ergenis, sprich zu keiner Möglichkeit, etwas zwischen die Zähne zu bekommen. So bleibt mir auf dem Heimweg nur, mich an den vielen Weintrauben zu laben. Am nächsten Tag geht es auf wunderschönem Radweg in Richtung Izieu. Da wir den Ort aber heute nicht mehr erreichen bzw. besuchen können, planen wir eine weitere Übernachtung. Dieses Mal ist Booking.com der beste Ratgeber. Er schickt uns zu einem wunderschönen alten Schloss auf einem Hügel über dem Ort Saint-Genix, nur ca. 5 km Luftlinie von Izieu entfernt. Die schöne Herberge mit dem noch schöneren Zimmer und Bad verschlägt uns die Sprache. Das hatten wir nicht erwartet. So kann ich mir auch das fehlende Abendessen verkneifen und mich mit einem guten Bier trösten. Dafür ist das Frühstück wieder ein Hochgenuss.

Es ist nicht ganz leicht, die Auffahrt nach Izieu zu finden. Überall sind die Bauern noch damit beschäftigt, an den Südhängen der Berge unter erschwerten Bedingungen Heu zu ernten. Auch uns macht die morgendliche Sonne ganz schön zu schaffen an der steilen Auffahrt nach Izieu. Schon ein Kilometer vor dem Dorf liegt das ehemalige kleine Feriendorf, heute zu einer Gedenkstätte erklärt.

Dieses Lied hat uns inspieriert, mit dem Fahrrad das Haus der „Kinder von Izieu“ zu besuchen. Hören Sie die Musik zu den folgenden Bildern.

https://music.apple.com/de/album/die-kinder-von-izieu/723517787?i=723518081

Während wir durch die verschiedenen Räume in dem ehemaligen Kinderheim gehen, spüren wir den Kloos im Hals und fühlen eine die aufkommende Bitterkeit und der Gedanke, dass hier vor ca 75 Jahren eine Gruppe von Kindern aus vielen Ländern Europas von einem Tag auf den anderen den Schutz der Gemeinschaft, der begleitenden Erwachsenen und zum Schluss sogar ihr Leben verloren, macht uns traurig.

Die Gedenkstätte „Maison dÌzieu ist Museum und Daueraustellung. Sie zeigt die Geschichte von der Besetzung Frankreichs durch das Hitler-Regime über die Vichy-Regierung, die Kollaboration, die Internierungslager in Frankreich und im Mittelpunkt die Kinderkolonie und die Razzia von Izieu mit dem Transport Nr. 71 nach Auschwitz. Auch erwähnt bei dem Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof.

Der Verantwortliche, auch für die Ermordung der Kinder von Izieu war der „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie. Auch ihm gelang nach der NS-Zeit die Flucht über die Rattenlinie nach Südamerika. Nachdem er dort über viele Jahre in den Diktaturen von Peru, Argentinien und Bolivien weiter sein Unwesen als Folterknecht treibt, findet ihn 1972 Beate Klarsfeld, eine deutsche Aktivistin und Ita Rosa Halaunbrenner, die Mutter eines Kindes, das auch von Izieu nach Auschwitz transportiert wurde. Doch es dauert weitere 15 Jahre bis er 1987 in Frankreich endlich vor Gericht steht. Nach 4jähriger Haft stirbt er als erster gefangener Kriegsverbrecher in einem französischem Gefägnis. Nachdem durch den Prozess viele Menschen von den Vorkommnissen in Izieu erfahren, wird die Gedenkstätte 1988 errichtet.

Nachdem der Leiter der Gedenkstätte erfährt, dass wir aus einem Ort in Deutschland mit dem Fahrrad angereist sind, heißt er uns persönlich willkommen und schenkt uns ein Buch über die Gedenkstätte als Andenken. Merci !

Ein jüdisches Kind, das vergast wird oder ein Kind der Tutsi-Minderheit, dem die Kehle durchgeschnitten wird, werden getötet, weil sie als Jude bzw. Tutsi geboren werden. Ihre Zugehörigkeit zum Menschen wird ihnen aufgrund dieser Eigenschaften von ihren Tätern aberkannt. Demgemäß ist die gesamte Menschheit berechtigt, in ihrem Namen Gerechtigkeit einzuklagen. Und wie kann ein Staat, aus Gründen innerpolitischer Opportunität, dazu berechtigt sein, seine nationale Souveränität der gesamten Menschheit, von der er nur ein Teil ist, entgegenzuhalten? Robert Badinter

Etwa 1 Kilometer oberhalb der Gedenkstätte befindet sich der Dorf Izieu.

Am frühen Nachmittag, nach dem Besuch der Gedenkstätte geht es mit dem Rad zurück nach Culoz. Eigentlich möchten wir nochmals übernachten, bevor wir anderntags mit dem Zug durch die Schweiz nach Hause fahren wollen.

Jedoch entschließen wir uns spontan für die Rückreise noch am gleichen Tag. Wir bekommen noch einen Zug nach Genf. Und dort lernen wir wieder einmal die optimale schweizerische Bahn kennen. Kurz nach Mitternacht sind wir in Bregenz. Von dort geht es nach einer kleinen Zwischenstärkung mit dem Rad in einer Nachtfahrt nach Hause. Wieder einmal genieße ich das tolle Radlicht, gespeist vom Nabendynamo. Während Brigittes Licht schon nach kurzer Zeit den Geist aufgibt …..

Spät in dier Nacht fallen wir müde, aber zufrieden wieder in unsere eigenes Bett.